September 4th, 2022
Digitale Wahrnehmung
Digitalisierung menschlicher Wahrnehmung
Dass Digitalität nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern auch unser Bewegungsverhalten verändert, wird jedem bewusst sein, der schon mal sein Smartphone zuhause hat liegen lassen. Wir interagieren mit und mit Hilfe von einem reichhaltigen digitalen Angebot und das verändert auch uns, unser Verhalten und unser Verständnis von den Dingen.
Architektinnen und Architekten, Planende, Gestaltende und Nutzende sind vor diesem Hintergrund in ein dynamisches Spannungsfeld zwischen Raum und digitaler Technologie geraten, aus denen sich Chancen und Herausforderungen und nicht zuletzt viele neue Aufgaben ergeben.
Das Potenzial, über das sie mit Ihrem Erfahrungswissen über Stadt und Raum verfügen, wird aktuell bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Denn als primäres Aufgabengebiet werden traditionell „Straße“, „Haus“, „Fas-sade“ sowie Grundrissgestaltung angesehen und wenig vom komplexen Wissen über Interaktion im Raum und dem wechselseitigen und aufeinander bezogenen Handeln unterschiedlicher Akteure im sozio-technischen Gefüge angewendet. Gerade ein solches Verständnis – etwa vom öffentlichen, halböffentlichen oder privaten Raum – ist grundlegend bei der Gestaltung von bzw. mit mobilen und digitalen Technologien.
Zweifellos ergeben sich hieraus neue Anforderungen, sowohl an die Profession der Gestaltenden als auch an die zu gestaltenden Objekte und Umgebungen selbst. Insbesondere dann, wenn diese „von sich aus“ ihren Nutzenden vermitteln, wie sie zu benutzen sind. So, wie die Maustaste Hinweise darauf gibt, dass sie geklickt werden kann, um bestimmte Aktionen auszuführen.
Im Zuge der Digitalisierung unseres Alltagslebens, die vor allem durch eine Hybridisierung von Digitalem und Analogem geprägt ist, ergeben sich zwangsläufig auch neue Herausforderungen. Wie geht die Gesellschaft mit der räumlichen und virtuellen Umgebungsgestaltung um und auf die zunehmende Veränderung von Mediengewohnheiten bzw. die daran gekoppelten Verhaltensmuster ein?
Das Zusammenspiel von explizitem wie technischem, gestalterischem und (städte- und raum-) planerischem Wissen oder von implizitem, wie Nutzungs- und Alltagswissen, ist hierbei gleichermaßen unumgänglich wie vielversprechend. Ein Beispiel: Die so genannten standortbezogenen Dienste (Location-based Services) – jene Angebote, die Nutzende eines Smartphones in Abhängigkeit zu deren geografischer Position selektive Informationen zur Verfügung stellen.
Hierbei handelt es sich nicht bloß um App-Entwicklungen im Mobilfunkbereich. Hier wird Architektur verändert! Gewachsene städtische Strukturen, Straßenführung, Wegeleitsysteme, Personennahverkehr, Arbeits-formen, Außenwerbung, der Schaufensterbummel oder das Flanieren sind zunehmend durchzogen von nicht baulichen, nicht-dinglichen, virtuellen, plattformvermittelten, datenbasierten, wenn nicht gar datengetriebenen Impulsen. Co-working Spaces fördern und fordern ein temporäres, projektbasiertes Arbeiten. Hotels erhalten Konkurrenz durch privaten Wohnraum. Einzelhändler benötigen unter Umständen kein Schild mehr für ihre Geschäfte, weil sich Kundinnen und Kunden auf ganz anderen Wegen erreichen lassen. Allem voran: dem des digitalen Mediums.
Durch Digitalität verändert sich also beides: das Räumliche selbst (Stadt, Architektur), aber auch unsere Wahrnehmung davon. Wir navigieren anders durch Städte und Gebäude als noch vor wenigen Jahren. Die zunehmende Entwicklung und Einbindung von Mixed Reality (Virtual Reality, Augmented Reality) wird diesen Eindruck noch verstärken. Das gestalterische Wissen über die menschliche Wahrnehmung von räumlichen Strukturen fließt dabei zunehmend auch in die Gestaltung von digitalen Interfaces mit ein und umgekehrt.
Wenn Architekturen durch das Digitale verändert und Orte im Realen zunehmend mit ihrer Repräsentation im Virtuellen verwoben werden, so impliziert dies nicht nur ein erweitertes Verständnis vom gestalteten Raum, sondern es ergeben sich auch neue Herausforderungen in Bezug auf die Einbindung und Teilhabe sämtlicher potenzieller (Nicht-)Nutzender in ihrer gesamten gesellschaftlichen Bandbreite.
Zusammenleben herstellen
Ausschlaggebend für die kontinuierliche Verbesserung von Stadt und Raum – auf physischer und sozialer Ebene – bleibt die profunde Ergründung und Durchdringung der Wechselwirkungen zwischen gewachsenen Strukturen, vorgegebenen Formen, und der intersubjektiven Ausgestaltung von sozialen Beziehungen im öffentlichen Raum. Dieser ist immer durch eine Vielzahl von Situationen, Phänomenen, Zusammenkünften und Orten des Übergangs, des Verhandelns, der Transformation und Vernetzung charakterisiert.
Stadt ist somit zugleich Ausgangs- und Kulminationspunkt der Verräumlichung sozialer, kultureller Prozesse. Zusammenleben wird in ihr und durch sie immer wieder aufs Neue hergestellt, ausgehandelt und konfguriert – und ohne Zweifel dadurch auch: gestaltet.
Bei all dem sollte nicht vergessen werden, dass die Arbeitsfelder von Gestaltenden und Planenden zwar durchaus auf wahrscheinliche Zukünfte ausgerichtet sein mögen, mindestens ebenso elementar für ihre Arbeit ist jedoch die Auseinandersetzung mit wünschenswerten Zukünften. Dies beinhaltet allem voran, über das Wohl der Städte nachzudenken, um daraus Strategien zu entwickeln, wie sich Orte lebendig machen lassen und wie sich darin Wohnende und Gäste über die Rolle als Konsumenten ihres eigenen Lebens hinaus emanzipieren können. Primäres Ziel der Stadtplanung sollte hierzu nicht einzig die Gestaltung von Häusern und Straßen sein.
Viele Momente im Prozess der Planung entscheiden über die Wirkung von Architektur mit Entscheidungen z.B. über die Farbe von Fußbodenbelägen oder die Positionierung von Fenster und Türen - in erster Linie entscheiden jedoch die Menschen und ihre Vorstellungen von Zusammenleben wie Gebäude gemeinschaftlich belebt werden.
Anforderungen zur digitalen Wahrnehmung
Im Zuge der Digitalisierung verändern sich nicht nur Formen des Raumes, der Kommunikation, der Medienverarbeitung, der Produktion, Wissens-verbreitung, Freizeitgestaltung, Bildung, Arbeit und Fortbewegung, sondern auch die unserer sinnlichen Wahrnehmung.
Der Mensch denkt, fühlt, handelt und gestaltet unter Bezugnahme auf und in Beziehung zu seiner gegenständlichen Umwelt. Die Lebenswelt des Menschen ist von Dingen und die Dinge selbst immer mehr von digitalen Strukturen durchzogen. Es besteht somit ein kausaler Zusammenhang einer sozialen – nicht zuletzt emotionalen – zur dinglichen und digitalen Welt.
Geht man davon aus, dass der Mensch bei zunehmender Digitalisierung auch mit einer erhöhten Reizdichte und Impulsfrequenz, und folglich auch mit einer erhöhten Anforderung zur Eindrucks- und Informationsverarbeitung konfrontiert ist, wird schnell deutlich, dass die Digitalisierung unserer Alltagswelt nicht ohne neurokognitive Konsequenzen bleibt.
Dies dürfte jedem bewusst sein, der sich schon mal mit den Vor- und Nachteilen des digital entfachten Multitaskings auseinandergesetzt hat. Für Gestaltende und Planende ergeben sich hier gleich mehrere, im Folgenden beispielhaft skizzierte Aufgabenbereiche, die sich insbesondere auf die unterschiedlichen Sinnes- und Wahrnehmungsorgane und deren immersive Adressierung im digitalen Kontext beziehen.
Immersion fungiert in diesem Zusammenhang als Oberbegriff für das Eintauchen in eine, nicht zwangsläufig gänzlich digital simulierte, zumindest aber doch digital ergänzend unterstützte, „erweiterte Realität“, deren Erfahrbarkeit sich aus einer Verquickung von (nah- und fern-) sinnlichen Eindrücken speist.
Digitales Sehen
Hier ist vor allem das Feld der Mixed Reality (Vermischte Realität) zu nennen. Damit bezeichnet man Systeme oder Umgebungen, die die natürliche Wahrnehmung der Nutzenden mit künstlich (digital) erzeugten Wahrnehmungsweisen vermengen. Die bekanntesten Beispiele: Virtual Reality (virtuelle Realität) und Augmented Reality (erweiterte Realität).
Digitales Hören
Bekannte Beispiele (etwa 3D- oder Surround-Sound) entstammen zumeist dem Gebiet des (Home-) Entertainments, z. B. bei Musikaufnahmen, Kino/Film oder Videogames. Die Erzeugung und Widergabe einer möglichst realistischen, mitunter hyperrealistischen Raumklang-Erfahrung umfasst dabei gleicher-maßen die Fortentwicklung von Softwaretechnologien und Ausgabegeräten.
Digitales Fühlen
Die haptische Wahrnehmung im digitalen bzw. hybriden Kontext bezieht sich vor allem auf Aspekte der (be-)greifbaren Interaktion. Etwa wenn das Berühren eines Touchscreens an einen Vibrationsimpuls als Rückmeldung gekoppelt ist. Intuitive Bedienbarkeiten lassen sich hier teils unmittelbarer erzeugen als lediglich visuell. Ein Beispiel: die so genannten TUIs: Als Tangible User Interfaces bezeichnet man (be-)greifbare Bedienoberflächen und Geräte, mit denen digitale Interaktion anhand von physischen Objekten möglich ist. TUIs stehen dem Konzept des GUIs (Graphical User Interface) gegenüber, bei dem es um Interaktion mit Hilfe von grafischen Steuerelementen (etwa durch Klicken von Buttons auf einem Bildschirm per Mouse-Befehl) geht. Tangible Interaktion kann sich auf unterschiedliche Körperbereiche beziehen, etwa indem sich durch entsprechend platzierte Elektroden gezielt Reize auslösen lassen, die den Eindruck eines bestimmten haptischen Gefühls vermitteln.
Weitere Forschungen beschäftigen sich zudem mit Aspekten des Digitalen Riechens (Künstliche Erzeugung und Simulation von Aromastoffen), was unweigerlich auch den Bereich des Digitalen Schmeckens tangiert, da die hier adressierten Rezeptoren teils nah beieinander liegen, teils identisch sind. (Die Riechzellen der Nase sind auch maßgeblich an der Geschmacks-empfindung beteiligt).
Auch in städtebaulichen Zusammenhängen ergeben sich im Kontext der Digitalen Wahrnehmung spannende Möglichkeiten, etwa wenn es darum geht, fehlende oder beeinträchtigte Sinne bestimmter Nutzenden(-gruppen) digital zu unterstützen, wenn nicht gar zu ersetzen. Gerade im Zusammenspiel von vernetzten Dingen und Architekturen mit den digitalen Infrastrukturen wie Smartphones und dergleichen, zeichnen sich hier Möglichkeiten ab, bestimmte (Sinnes-) Reize durch andere auszugleichen oder künstlich zu simulieren.
Auch auf dem Gebiet der Architektur-, Bau- und Planungsvermittlung sind längst Veränderungen zu verzeichnen. Baupläne und Modelle für zukünftige Plätze und Gebäude etwa, sind nicht für jedermann gleich zugänglich und plausibel zu erkennen. Immersive Simulationen und erweiterte Erfahrungswelten können dabei behilflich sein, andere, vielleicht neue Formen räumlicher sowie generell sinnlicher Wahrnehmung zu befördern.
Zweifelsohne sind die Möglichkeiten der Digitalen Wahrnehmung, die ja nicht zuletzt ein weiteres Indiz für die zunehmende Hybridisierung von Mensch und Maschine sind, auch an gesellschaftliche Herausforderungen geknüpft, die es verantwortungsbewusst zu ergründen gilt.
Der Artikel basiert auf einer Reihe von Beiträgen des Autoren, die im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen Berlin in der 2021 erschienenen Broschüre „Design for All – Öffentlich zugängliche Gebäude“
veröffentlicht wurden.
References
Download & Citation Info
Bieling, Tom (2022): Digitale Wahrnehmung. DESIGNABILITIES Design Research Journal, (09) 2022. https://tinyurl.com/fhp45a9d ISSN 2511-6274