February 3rd, 2025

Geschwister im Geiste – Pataphysik als Grundlage und Erweiterung der Designforschung

Die Pataphysik, jene „Wissenschaft der imaginären Lösungen“, die Alfred Jarry Ende des 19. Jahrhunderts begründete, stellt eine der aufrgendsten Denktraditionen der Moderne dar. In ihrem Kern widmet sie sich dem Paradoxen, den Ausnahmen und den Abweichungen, die die Regeln und Logiken der etablierten Wissenschaften herausfordern. Vorrangig in literarischen und künstlerischen Kontexten verortet, birgt die Pataphysik ein hohes Potenzial für die Designforschung. Sie fordert dazu auf, Gestaltung nicht lediglich als ein Mittel zur Lösung praktischer Probleme zu begreifen, sondern als Werkzeug, um alternative Realitäten zu imaginieren und kritische Reflexion zu befördern.
Das Verbindungspotenzial zwischen Pataphysik und Designforschung liegt auf der Hand, denn beide scheinen nach neuen epistemischen Räumen zu streben und zeigen, wie das Denken über das Absurde und das Unwahrscheinliche zur Entwicklung “innovativer” Ansätze beitragen kann. Indem sie die Grenzen der konventionellen Wissenschaft hinter sich lässt, lädt die Pataphysik Designer:innen dazu ein, spekulative Szenarien zu entwickeln, die nicht nur das Mögliche erweitern, sondern auch normative Annahmen und funktionale Zwänge hinterfragen.

Imagination und Absurdität im Dienste des Denkens –
Ursprung der Pataphysik und ihr Einfluss auf die Wissenschaftskritik

Alfred Jarry definierte die Pataphysik als eine Disziplin, die die „Gesetze untersucht, welche die Ausnahmen regeln“ (Jarry 1982). Sie stellt eine radikale Umkehrung der traditionellen wissenschaftlichen Methodologie dar, die auf universellen Gesetzen und Regelmäßigkeiten basiert. Während die Wissenschaft das Regelmäßige sucht, erhebt die Pataphysik das Einzigartige und das Absurde zur normativen Grundlage. Sie fordert die Logik heraus, indem sie sich mit dem Unwahrscheinlichen und Paradoxen befasst – nicht als bloßer Kritik an der Wissenschaft, sondern als Erweiterung ihrer Möglichkeiten.

Jarrys Werk ist eng mit den intellektuellen Strömungen des Fin de Siècle verbunden, das von einer tiefen Skepsis gegenüber der aufkommenden Dominanz des Positivismus geprägt war (Shattuck 1968). Diese Skepsis, die auch in Bewegungen wie dem Dadaismus und später dem Surrealismus Ausdruck fand, wurde zu einer Quelle kreativer Subversion. Die Surrealisten, etwa André Breton, sahen in der Pataphysik eine Methode, um die Grenzen von Logik und Realität zu überschreiten und das Potenzial des Unbewussten und Absurden in Kunst und Literatur zu erschließen (Breton 1980).

Pataphysik als methodologische Erweiterung der Designforschung

Designforschung zielt – nicht immer, aber häufig – darauf ab, Methoden anzuwenden oder zu entwickeln, die funktionale, ästhetische und gesellschaftliche Probleme adressieren. Dabei ist der Fokus häufig auf pragmatische Lösungen und Effizienz gerichtet, was zwangsläufig normative Rahmenbedingungen reproduziert (Krippendorff 2012). Die Pataphysik stellt diese pragmatische Ausrichtung radikal infrage, indem sie fordert, die Regeln selbst zu hinterfragen und nach Alternativen zu suchen, die jenseits der etablierten Denkweisen liegen.

Ein zumindest in Designgefilden prominenter Ansatz, der sich mit dieser Methodologie annähernd deckt, ist das spekulative Design. Dunne und Raby (2013) definieren dieses als Praxis, die nicht primär auf Problemlösung abzielt, sondern Hypothesen über alternative Zukünfte formuliert. Dabei kommen pataphysische Prinzipien ins Spiel, indem Designer:innen bewusst dysfunktionale oder absurde Objekte entwerfen, die dazu dienen, gesellschaftliche Normen und technologische Entwicklungen zu hinterfragen. Einen vergleichbaren Ansatz nimmt das „Critical Design“ für sich in Anspruch, das ähnliche Ziele verfolgt. Statt die Welt „besser“ zu machen, strebt es danach, eine tiefere Reflexion über soziale und kulturelle Kontexte zu fördern (Malpass 2017). In diesem Kontext wird das pataphysische Denken zu einem epistemischen Werkzeug, um die Funktionalität als oberste Maxime des Designs zu überwinden und Raum für das Spekulative und Imaginäre zu schaffen.

Pataphysik in der praktischen Designforschung: Anwendung und Relevanz

Die Anwendung pataphysischer Prinzipien in der Designforschung erfordert eine bewusste Abkehr von traditionellen Lösungsansätzen. Statt sich ausschließlich auf funktionale oder ästhetische Optimierung zu konzentrieren, können Designer:innen pataphysische Methoden nutzen, um alternative Denkweisen zu kultivieren. Ein Beispiel hierfür ist das Konzept der „imaginären Prototypen“, die nicht als Vorstufen realisierbarer Produkte gedacht sind, sondern als spekulative Objekte, die Fragen aufwerfen und Diskussionen anregen.

Diese Praxis erinnert an die surrealistischen Objekte von Künstlern wie Salvador Dalí oder René Magritte, die alltägliche Dinge auf absurde Weise transformierten, um verborgene Bedeutungen zu offenbaren (Foster et al., 2013). Ein vergleichbarer Ansatz könnte in der Designforschung genutzt werden, um das Verhältnis von Mensch und Technologie zu hinterfragen – etwa durch die Entwicklung von Geräten, die absichtlich dysfunktional sind, um die Abhängigkeit von Effizienz und Rationalität zu problematisieren.

Ein weiteres Anwendungsfeld liegt in der Stadtplanung. Hier können pataphysische Prinzipien verwendet werden, um urbane Räume zu imaginieren, die sich den Zwängen von Funktionalität und Kontrolle entziehen. Die Situationisten, die sich ausdrücklich auf Jarrys Ideen beriefen, entwickelten etwa das Konzept der „dérive“, des ziellosen Flanierens, um Städte als Orte des kreativen Spiels und der Subversion zu erleben (Debord 1996). Ähnliche Ansätze könnten in der Designforschung zur Förderung partizipativer und spekulativer Planung genutzt werden.

Kritik und Perspektiven

Obgleich die Pataphysik in der Designforschung ein enormes Potenzial entfaltet, wird sie auch kritisch betrachtet. Eine häufig geäußerte Sorge ist, dass pataphysische Ansätze das Risiko bergen, sich in ironischer Selbstreferentialität zu verlieren und keine greifbaren Ergebnisse zu liefern (Baudrillard 1983). Doch gerade in ihrer bewussten Abkehr von greifbaren Resultaten liegt ihre Stärke: Die Pataphysik fordert nicht nur das „Was“, sondern vor allem das „Wie“ und „Warum“ heraus, indem sie die epistemischen Grundlagen von Design und Wissenschaft hinterfragt.
Für die Zukunft der Designforschung könnte die Pataphysik zu einer zentralen Quelle der Inspiration werden, insbesondere in einer Welt, die immer stärker von technologischen und ökologischen Umbrüchen geprägt ist. Indem sie alternative Denk- und Gestaltungsräume eröffnet, erlaubt sie es, über die bestehenden Paradigmen hinauszugehen und Gestaltung als kritische und spekulative Praxis zu verstehen.

References

Baudrillard, J. (1983). Simulations. Semiotext(e).

Breton, A. (1980). Die Manifeste der Surrealisten. Rohwolt.

Debord, G. (1996). Die Gesellschaft des Spektakels (La société du spectacle). Edition Tiamat

Dunne, A., & Raby, F. (2013). Speculative Everything: Design, Fiction, and Social Dreaming. MIT Press.

Foster, H., Krauss, R., Bois, Y.-A., & Buchloh, B. H. D. (2013). Art Since 1900: Modernism, Antimodernism, Postmodernism. Köln: DuMont.

Jarry, A. (1982). Gesten und Meinungen des Doktor Faustroll, Pataphysiker (Gestes et Opinions du Docteur Faustroll, Pataphysicien). Frankfurt a. M.: Insel.

Krippendorff, K. (2012). Die semantische Wende – Eine neue Grundlage für Design. Basel: Birkhäuser.

Malpass, M. (2017). Critical Design in Context: History, Theory, and Practices. London: Bloomsbury.

Shattuck, R. (1968). The Banquet Years: The Origins of the Avant-Garde in France. New York: Vintage.

Download & Citation Info

Hofer, Sophie (2025): Geschwister im Geiste – Pataphysik als Grundlage und Erweiterung der Designforschung DESIGNABILITIES Design Research Journal, (02) 2025 https://tinyurl.com/597j9ubp ISSN 2511-6274