February 1st, 2022
Weltwissen und Bilderordnung
Tom Bieling | Buchbesprechung
Zeichen sind allgegenwärtig. Wohl kaum ein Ort oder Moment, in dem wir nicht von Bildern umgeben sind. Die technologisch unterfütterte Globalisierung des visuell Gestalteten tut ihr Übriges, dass wir fortwährend von grafischen Bildern und Abbildern geprägt und beeinflusst werden. Die Ordnung der Bilder: ein hochkomplexes, vermutlich gar unmögliches Verfahren. Die Bilder der Ordnung: Nicht selten ein Trugschluss.
Im alltäglichen Umgang erweisen sich Bilder sowohl für ihre Rezipient:innen als auch für ihre Gestalter:innen – auch und gerade bei genauerem Hinsehen – als schwer durchschaubar. Jeder auf ein Verstehen ausgerichtete Zugang zu ihrer sozialen, kulturellen, vermittelnden Rolle mündet zwangsläufig in Widersprüchlichkeit, und ihre Durchdringung führt nicht selten auf un-gewünschte Fährten. Es stellt sich die Frage: Was machen die Menschen mit den Bildern. Aber auch: Was machen die Bilder mit den Menschen?
Große Teile unseres Weltwissens, unserer Deutungsweisen und unserer Sicht auf die Dinge sind immer auch durch grafisches Denken und Modellieren herausgebildet, zumindest jedoch herausgefordert und beeinflusst, und werden durch Darstellung überhaupt erst anschaulich und vermittelbar (etwa als Infografiken, Diagramme oder Piktogramme). Doch was genau wird da eigentlich abgebildet? Und welchen Einfluss hat dies auf unsere Wahrheitsfindung, Weltanschauungen und Erkenntniswege?
Der jüngst erschienene, von Annette Geiger und Bianca Holtschke herausgegebene Sammelband „Piktogrammatik – Grafisches Gestalten als Weltwissen und Bilderordnung“ geht dem – gemäß dem eigens formulierten Anspruch, zwischen Theorie und Praxis zu vermitteln – aus verschiedenen Blickrichtungen auf den Grund.
Seit Platon und Aristoteles diskutiert die Philosophie über die „Legitimität der grafischen Darstellung in Wissensprozessen. Wodurch werden Bilder bzw. visuelle Übersetzungen aller Art zu rechtmäßigen Vermittlern von Ideen und ab wann sind sie nur Lug und Trug, somit illegitime Verführung und Beeinflussung des Denkens?“ (Geiger/Holtschke, 12). Im Alltag wie in der Wissenschafts-kommunikation ist diese Frage elementar. In Schaubildern der Nachrichten-sender, auf Straßenschildern und Wegeleitsystemen, auf Informationsgrafiken unterschiedlicher (nicht nur Natur-) Wissenschaftszweige werden wahr-genommene und interpretierte Realitäten einer bildlichen, oftmals stilisierenden, typisierenden Abstraktion unterzogen. „Dargestellt wird nicht die Sache wie sie ist, sondern eine Auswahl der jeweils als relevant befundenen Aspekte.
Zudem ist Ähnlichkeit häufig gar nicht möglich: Allein aufgrund der notwendigen geometrischen Übersetzung der Kugelgestalt auf die Fläche sind beispielsweise Atlanten der Erde keine Abbilder, sondern für den Informations- bzw. Wissenszweck erstellte Neukonstruktionen. (ebd. 19) Wissen, so die mögliche Folgerung, wäre demnach auch nur eine Form des Entwerfens.
In jedem Fall jedoch auch eine, bei der sich die Frage nach einer möglichen Grammatik stellt, die letztlich jede Kommunikation als Rahmen voraussetzt. Im Kontext der Piktogramme ergibt sich hier nochmal eine eigene Herausforderung, indem wir, so der Medienwissenschaftler Rolf F. Nohr, nicht genau wissen, als was wir Piktogramme begreifen sollen – als Bilder oder als Schrift (Nohr, 113). Die noch größere Herausforderung der Bildergrammatik besteht jedoch darin, dass sie zwar auf der „Idee des Abbildens von wahrgenommener Wirklichkeit beruht“, was im Gegenzug allerdings nicht bedeutet, dass dabei die „Realität selbst abgebildet werden könnte. Das Wirkliche wird vielmehr gedeutet und bedeutet.“ (Geiger/Holtschke, 12)
Der Begriff der Piktogrammatik, der (bis dato) kein feststehender Terminus der Designtheorie ist, verdeutlicht dabei zweierlei, nämlich, dass die Entwurfspraxis auf bestehendes Wissen zurückgreift, im gestaltenden Handeln zugleich aber auch eine Form von eigenlogischer Wissensproduktion betreibt. „Das gestaltete Bild zeigt, was so noch nicht sichtbar war, es gibt einer immateriellen Idee eine materielle Form.“ (ebd. 11)
Dass eine solche Form der Bild- (bzw. Dia- oder eben Pikto-) Grammatik immer auch mit entsprechenden Transformationsleistungen seitens der Betrachter:innen in Verbindung steht, wissen wir spätestens aus den Bild- und Verständnistheorien nach Nelson Goodman, Abraham A. Moles oder auch Jean Piaget, die zwar im Buch keine Erwähnung finden, was jedoch seinen Argumentationssträngen keinen Abbruch tut, zumal dennoch klar und deutlich herausgearbeitet wird, dass bildhaften Dinge (und nicht nur Piktogramme) ebenso wie Worte an Rhetoriken geknüpft sind (u.a. Smolarski), mit denen stets auch Absichten verfolgt werden bzw. sich verfolgen lassen, was in ihrer Welterzeugung wiederum unweigerlich an gewisse Machtmomente gekoppelt ist.
Wobei auch klar ist, dass es sich dabei gar nicht mal zwangsläufig um strategisches Kalkül handeln muss, sondern bisweilen auf unachtsames, unreflektiertes Handeln zurückzuführen ist. „Selbst die größte Bemühung um Abstraktion und Reduktion im Sinne einer Neutralität des Gemeinten kommt nicht umhin, auf Generalisierungen und Stereotype zurückzugreifen, die wiederum konnotative Aufladungen nach sich ziehen. Sie generieren und strukturieren eine Wirklichkeit, die nur scheinbar objektiv und sachlich abgebildet wird“. (ebd. 13) Was auch damit zusammenhängen kann, dass das Bild in seiner Perzeption kontextualisiert gelesen wird. Erst durch die Ergänzung eines Kontextes „erhält das Bild propositionalen Gehalt. Erst dann nimmt es bestimmte Wahrheitsbedingungen an und ist je nach Lage wahr oder falsch“. (Holtschke, 219) Gleichwohl wird das Bild ohnehin unbewusst als „realitätsnah“ oder gar als „natürlich“ gelesen (Geiger/Holtschke 13). „Piktogramme erzeugen auf diese Weise ihre eigene ‚Wahrheit’, sie stellen Wirklichkeiten her“. (ebd.) Eine konkrete Sachlogik wird oftmals anhand von ästhetischen Auswahl- und Entscheidungsprozessen überhaupt erst produziert und sichtbar gemacht (20) sowie letztlich manifestiert.
Die Beiträge von Annette Geiger, Bianca Holtschke, Hannes Kater, Joosten Mueller, Rolf F. Nohr, Samuel Nyholm, Carolin Scheler, Astrit Schmidt-Burkhardt, Pierre Smolarski, Daniela Stöppel und Lukas R. A. Wilde gehen dem aus unter-schiedlichen Forschungsperspektiven nach, die z. B. in ästhetischen, episte-mologischen, medientheoretischen, anthropologischen, kunsthistorischen oder rhetorischen Fragen mit dem Forschungsobjekt der visuellen Gestaltung betraut sind. Im Fokus steht dabei nicht nur die Frage, wie Bilderordnung generell konstituiert ist, sondern auch wie sie im Entwurfsprozess entwickelt werden kann und zur Geltung kommt.
Die Anknüpfungspunkte für die Designpraxis liegen auf der Hand, denn ein Entwurf und die mit ihm einhergehenden (internen und externen) Kommu-nikationsprozesse setzten voraus oder mögen in aller Regel umso stichhaltiger verlaufen, wenn es entsprechende (anschauliche) Bilder, Skizzen, Pläne und dergleichen gibt, die bei der Vermittlung des geplanten oder im Prozess befindlichen Entwurfsvorhabens behilflich sind.
Für derartige planerische Bilder gibt es freilich kein Alphabet im herkömmlichen Sinne. Gerade, wenn es um „innovative“, vielleicht spekulative Prozesse im Sinne der Herstellung dessen, was noch nicht ist, geht, müssen Zeichen häufig überhaupt erst geschaffen, bisherig Bestehende in Frage gestellt oder neu(e) entwickelt werden.
Anders als bei Schriftzeichen (z. B. lateinische Buchstaben), bei denen sich ja häufig auf ein festgelegtes Zeicheninventar zurückgreifen lässt, ist man in der grafischen Gestaltung in aller Regel freier, offener, ungebundener, aber auch richtungsloser. Bilder sind – ebenso wie textliche oder sprachliche Äußerungen – menschengemacht und kommen unter Zuhilfenahme bestimmter Wissensbestände, Techniken, Materialien, Methoden und Fertigkeiten zustande (20). Die Vielfalt unserer Weltbilder ist somit auch auf die Verzahnung bildlicher Welterschließungen und den ihnen vorausgehenden technischen, materiellen Kenntnissen, Möglichkeiten und Interessen zurückzuführen. Wodurch um ein weiteres Mal deutlich wird, wie sehr (Bild-)Gestaltung – explizit oder implizit – unweigerlich mit Gesellschaftsgestaltung einhergeht.
Tom Bieling, Januar 2022
Annette Geiger / Bianca Holtschke (Hg.)
Piktogrammatik
Grafisches Gestalten als Weltwissen und Bilderordnung
Deutsch, 310 Seiten, Transcript, 2021
ISBN 978-3-8376-5743-2
References
Download & Citation Info
Citation Information: Bieling, Tom (2022): Weltwissen und Bilderordnung. Buchbesprechung. In: DESIGNABILITIES Design Research Journal, (2) 2022. https://tinyurl.com/mwcyjyhp ISSN 2511-6274